Sonntag, 28. Oktober 2012

Lied des Wahnsinns

Es war ein Freitag, als er dem Wahnsinn begegnete. Es ist ein Grauenhaftes Erlebnis, ihn zu sehen, und ein noch grauenvolleres, ihm selbst zu verfallen.

Eisiger Regen fegte durch die Straßen und nahm einige der morschen Holzbretter mit, die den Garten ihrer Großeltern umzäunten. Weiß – Grauer Nebel senkte sich auf das kleine Dorf wie ein Schleier und machte es einem fast unmöglich, etwas bis auf die drei Meter vor sich zu erkennen. Alles verschwamm hinter einer kalten, undurchdringlichen Wand aus herabsenkender Wolken. Hin und wieder zuckte ein Blitz aus der beinahe schwarzen Wolkenschicht heraus und tauchte die Landschaft in ein geisterhaft wirkendes Licht. Donner grollte.
Alina saß an ihrem Fenster und starrte mit leeren Augen hinaus in das Unwirkliche. Ihr Fenster war gekippt. Jedes mal, wenn es donnerte, erwachte sie kurz aus ihrer Trance, in die sie seit Anbeginn des Unwetters versunken war. Aus der gegenüberliegenden Ecke ihres Zimmer ertönte leise Musik. Das Dröhnen, dass von draußen in ihr Zimmer drang, übertönte sie fast vollständig. Es war eine einfache, sich immer wieder wiederholende Melodie. Alina wippte langsam mit der Melodie mit. Ihre Lippen bewegten sich, doch sie sprach nicht. Wieder zuckte ein grell leuchtender Blitz über die Dächer des Dorfes. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen spiegelten das Licht. Ihre Haut leuchtete gespenstisch weiß und ihr Körper, der nur noch aus Haut und Knochen bestand, hob und senkte sich langsam zum Rhythmus der Melodie. Alles an ihr wirkte unecht. Langes, schwarz glänzendes Haar fiel über ihre schmalen Schultern bis hinunter zu ihrer Hüfte. Sie hatte nichts an bis auf ein langes, weißes Nachthemd. Die Melodie endete. Ein paar kurze Sekunden war es ganz still, selbst der Sturm draußen schien für einen winzigen Moment zur Ruhe gekommen zu sein, als die Melodie langsam wieder anspielte und gleichzeitig ein lauter Donnerschlag ertönte. In Alinas Augen blitzte kurz etwas auf, ihr Kopf hob sich und sie blickte langsam in deine Richtung. Sie hatte gewusst, dass du da warst. Du standest ganz ruhig auf der anderen Seite ihres Zimmers, direkt neben der Anlage, aus der die Musik drang. Alina musterte dich. Ihre Augen fassten alles langsam auf, und ihr Kopf bewegte sich immer weiter nach unten. Ihr Blick endete bei deinen Füßen. Dort verharrte sie für eine für dich ewig erscheinende Zeit. Du wolltest grade Luft holen, als ein plötzlich erscheinender Blitz dich zusammenzucken lässt. Als du Alina wieder ansiehst, schaut sie direkt in deine Augen. Ihr Blick ist so tief und dunkel, dass du nichts außer Schwärze darin erkennen kannst. Die Starre in ihrem Gesicht verunsichert dich. Du versuchst, ihrem Blick zu entweichen, packst es aber nicht. Deine Ohren beginnen, die Melodie, die seit Ewigkeiten durch dieses Zimmer schleicht, mehr wahrzunehmen. Alinas Lippen beginnen wiederholt, sich langsam zu bewegen. Du weißt, was sie dort tonlos vor sich hin singt. Es ist diese eine grauenhafte Melodie eines einzigen Wortes in der gleichen Tonlage, ein sich immer wiederholendes Wort. La... La... La... La... La...
Der Wahnsinn. Der Gedanke schießt dir durch den Kopf ehe du ihn zurückhalten kannst. Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich noch mehr. Dir war klar, dass sie es wusste. Das sie deine Gedanken genau kontrollieren konnte. Wahnsinnige können alles. Panisch schlägst du dir vor den Mund, bis dir einfällt, dass es nur deine Gedanken sind, die durch deinen Kopf hallen. La... La la... La... La...
Du beginnst, ihren Herzschlag wahrzunehmen. Er geht ganz langsam, so langsam, dass du befürchtest, dass er jeden Moment erlöscht. Doch mit der Zeit begann er sich zu verschnellern. Immer lauter und drückender traf dich jeder einzelner Herzschlag wie eine Schallwelle und drückte dich an die Wand hinter dir. Panik erfasst dich. Die Schläge wurden immer drängender, du konntest kaum mehr erfassen wann einer beginnt und aufhört. Du schlugst die Hände vor deine Ohren und begannst zu schreien, laut und schrill. Alina stand auf. Ihre dürren Beine trugen sie nur unsicher. Mechanisch kam sie auf dich zu. Du rutschtest an der Wand hinunter, krabbeltest langsam rückwärts in die Ecke, aus der die Musik ertönte. La... La... La... La... Ihre Lippen formten immer wieder dieses Wort. Alles schien dich zu erschlagen. Die Musik. Ihr Puls. Dieses Wort. Der Donner und der pfeifende Wind draußen. Das Lied des Wahnsinns.
Sie kam immer näher. Dann, ganz plötzlich, blieb sie stehen, nur wenige Zentimeter vor dir. Ewig erscheinende Sekunden verharrte sie so, bis sie, ganz langsam, ihren Kopf zur Seite neigte und dich aus ihren schwarzen Augen heraus anstarrte. Es quälte dich, mehr als alles, was du bisher hattest durchstehen müssen. Vor dir verschwamm die Umgebung, die Zeit schwand. Der Raum begann sich zu bewegen, vorwärts, direkt hinein in ihre Augen. Schwärze umgab dich. Du hörtest nur noch ihren Puls, die leise ertönende Melodie und ihr sich immer wiederholendes La... La... La la...
Dann, ganz plötzlich, war es vorbei. Du fandest dich in ihrem Zimmer wieder. Doch etwas war anders. Du konntest nicht weiter darüber nachdenken, denn dich überkam der drängende Wunsch, dich ans Fenster zu setzten, im Sturm zu versinken und zu singen. Dein Körper bewegte sich auf das Fenster zu, stieg über Alinas leblosen Körper, ihre weit aufgerissenen, strahlend blauen Augen. Du liest dich auf der Fensterbank nieder und begannst, zu singen, während der Wahnsinn in Form von eisiger Dunkelheit durch deine Augen in dich drang und dabei zusah, wie draußen die Welt im eisigen Sturm langsam versank.