Mittwoch, 24. Dezember 2014

Fremdkörper

Es gibt da ein Mädchen. Sie ist sehr verschlossen, und doch will sie zeigen, wer sie ist. Sie öffnet sich kaum anderen Menschen, und doch ist sie besessen vom unwirklichen Respekt anderer. Man bemerkt sie im Leben kaum. Nur an gewissen Tagen wagt sie sich aus ihrem Versteck, schleicht hinaus ins Leben, um dort kaum merkbar umso größere Spuren zu hinterlassen. Wie sie heißt weiß niemand, sie hat ihren Namen nie verraten. Wenn sie ins Leben tritt, wirkt sie auf andere wie ein abwesender Körper, der, versunken in kalte Träume, durch die Gegend zieht, mit leeren Augen, leerem Blick, abwesend, wie ein Zombie. Sie hört nicht auf Geschehnisse in ihrer Umgebung. Sie lebt in einer eigenen Welt. Träumt sich in diese hinein. Sie hat keine Ahnung was für eine Wirkung sie auf andere hat. In ihrer eigenen Welt ist es dunkel. Dunkel und zugleich warm. Mehr verrät sie jedoch nicht, alles weitere ist verschleiert durch dichte Schwaden von etwas, was sich nicht erkennen lässt. Oder sich erkennen lassen will. Sie kann diese Welt verlassen wann sie will, betreten wird sie nicht von ihr - wenn sie in ihrer Welt wandelt, war sie bereits da. In der Außenwelt kommt niemand an sie heran. Sie ist so nah - und doch zugleich unerreichbar für alle außenstehenden. Sie leben mit ihr zusammen und doch kennen sie sie kein Stück. Einzig und allein ihr verträumtes, abwesendes äußerliches Erscheinen prägt ihre Erinnerung an sie. Manchmal, wenn es diesem Mädchen besonders schlecht geht, da hat sie Angst. Ihre dunkle, warme Welt verfärbt sich in ein endloses Schwarz, ein kaltes Schwarz, dass einem Gänsehaut und Angsttränen verschafft. Sie verträumt sich in diese Welt nicht von selbst, sie wird mit einem Mal hineingezogen. Sie fühlt sich nicht wohl. Das ansonsten wärmende Gefühl hinter all diesen Verschleierungen ist nicht mehr da. Sie fällt. Fällt. Fällt. Immer tiefer, immer schneller. Die Kälte des Todes umarmt sie mit eisigen, rauen Pranken. Sie will schreien, will Hilfe, doch kein Ton kommt aus ihrer Kehle. Sie ist gefangen. Im freien Fall. Direkt hinein in den Tod, und der Sturz hört nie auf, sie schwebt durchs Endlose, immer währende eisige dunkle. Sie fühlt den Tod, fühlt wie ihr Leben erstirbt, langsam und qualvoll, spürt, wie sie alles verliert, und es will sein Ende nicht nehmen. Der Moment, in dem all diese Gefühle enden, all der Geruch nach Verwesung verfliegt, all die Dunkelheit zu enden scheint, endet auch ihr sein. Wieder einmal verkriecht sie sich in ihrem Versteck, geschwächt, allein, weinend. Dort bleibt sie mit ihrem Schmerz. Einsam. Sie versucht diese Reisen in den Tod zu vermeiden, so oft es geht. Doch die Angst vor dem Tod hat sie unter Kontrolle, und ist sie einmal in dieser Eiswelt gefangen, so kommt sie alleine nicht mehr heraus, nicht heraus, bevor es endet. Es gibt andere Tage. Tage, an denen ein Fremdkörper in ihr Schmerzen verursacht. Schmerzen, die nicht wirklich ihre sind. Sie liebt diese Schmerzen, liebt sie von ganzem Herzen, will sie teilen. Von Ruf des Schmerzes gelockt, schlüpft sie wieder einmal aus ihrem Versteck. Sie eigenet sich den Schmerz an. Es ist ein ganz besonderer Schmerz. Kein Schmerz, den einem die Umwelt zufügt. Ein Schmerz, der aus einer ganz anderen Ecke kommt. Einer Bösen Ecke. Einer Ecke, über die sie mit euch nicht reden will. Sie will nicht darüber reden, sie will es zeigen. Allen. Jedem Außenstehenden, will zeigen, wie wundervoll dieser Schmerz ist, wie stolz sie darauf ist, ihn spüren zu dürfen, will zeigen, dass es nichts schöneres gibt, dass es ihre sind, sie irgendwo ihr gehören, allein ihr. Sie will, dass jeder neidisch ist, keiner diesen Schmerz übertrumpft, keiner, will zeigen, dass sie die beste ist.
Der Fremdkörper des Schmerzes folgt ihr auf dieser Reise. Er weigert sich. Es ist ein winzig kleiner Funken Widerwillen, und dieser Funken ist zu klein, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Sie nimmt zu viel Platz in diesem Fremdkörper ein, wenn sie außerhalb ihres Versteckes ist. Der Fremdkörper, das bin ich. Ich versuche euch, irgendwie etwas über dieses Mädchens mitzuteilen. Ich versuche es so gut ich es kann, doch sie verschließt sich vor mir, sobald ich beginne, über sie nachzudenken. Ich kenne ihren Namen nicht, kenne ihre Hobbys nicht, kenne SIE nicht. Sie ist für mich ein Fremdkörper, so wie ich wohl für sie ein Fremdkörper bin. Wenn ich mich selbst verletzte, kann ich sie spüren, ich spüre sie in den offenen Wunden, spüre sie in meinen Tränen der Wut und der Trauer, spüre sie überall wenn ich das Blut fließen sehe. Spüre ihre Kraft, ihren Willen diesen Schmerz zu besitzten. Und ich bin einfach zu schwach mich gegen sie zu wehren. Ich weiß nie, wann genau sie aus ihrem Versteck kommt. Genauso wie ich nicht weiß, wann sie wieder geht. Ich kann nur ungenaue Zeitspannen ihrer Anwesenheit feststellen. Dies sind jene Zeitspannen, an die ich mich nicht erinnern kann. Es ist wie ein Blackout nach einer Alkoholexzessiven Nacht, verschleiert durch Schwaden aus etwas, was ich nicht benennen kann. Sobald ich versuche, sie mir vorzustellen, was sie in meiner Abwesenheit macht, jedes Mal wenn ich es versuche, tauchen diese Schwaden auf und alles verschwimmt. Egal ob nach Selbstverletzung oder anderen Situationen. Zum Beispiel wenn ich abdrifte. Manchmal bekomme ich noch mit, wenn mir das passiert. Da merke ich, wie ich aus meiner Welt gleite, irgendwo hin, in etwas dunkles, warmes. Ab diesem Punkt ist alles weg. Ich habe keine Ahnung, was in diesen Zeiträumen mit mir passiert, was ich mache, aber darüber wird SIE euch mehr erzählen können. Wenn sie will. Ich habe keine Ahnung ob sie will. Ich kenne sie nicht. Obwohl sie mir näher sein kann als jeder andere. Ich kenne sie nicht. Sie ist ein Fremdkörper für mich. Ich bin ein Fremdkörper für sie. Wir leben gemeinsam, miteinander. Fremdkörper in Fremdkörper. In manchen, seltenen Augenblicken weiß ich nicht mehr, ob ich noch ich bin. Das bedeutet nicht, dass ich mich dann in sie versetzten kann, es ist eher so, dass ich nicht mehr nachvollziehen kann, ob das alles noch real ist. Ich erkenne mich in meinen Angewohnheiten, in meinen Hobbys und meiner Denkensweiße. Trotzdem fühlt sich alles anders an.
Nothing's real. Everything's far away. Everything's a copy of a copy of a copy...
Ich weiß nicht, ob ihr nachvollziehen könnt, wie es in mir aussieht. Es ist schwer zu erklären, wie es in mir aussieht. Ich will nur, dass mich jemand versteht, und ich will sie verstehen können. Meinen Fremdkörper. Jener, der in mir sein Versteck gefunden hat - und herauskommt, um ein Leben auszuleben, dass ich versuche, von allem und jedem fernzuhalten. Ein Leben, welches nicht meines ist. Ein eigenes Leben, mit Sehnsucht nach Schmerz, Schmerz, der Respekt verdient haben soll, der gesehen werden will, gelobt werden will.
Ich kenne sie nicht. Ich weiß nicht, wer sie ist. Sie hat keinen Namen. Ich nenne sie Amelie.

1 Kommentar:

  1. danke für deinen kommentar.
    und du hast recht, hätte ich mich meiner stimmung hingegeben, dann würde ich es jetzt bereuen.
    liebe auch an dich.

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