Donnerstag, 29. November 2012

Schmerzstillstand

Stell dir vor, du stehst vor einem Spiegel. Du betrachtest dich, doch die Augen, die dir entgegenblicken, sind nicht deine. Es ist ein leerer Blick, ein schwarzer Sumpf mit trüben, verseuchten Gewässern. Starre hat von diesen Augen Besitz ergriffen. Mit der Zeit, in der du da so vor dem Spiegel stehst, schlänget sich leise zischend Kälte an dich heran, kriecht dir den Rücken herunter, lässt dich zittern. Die Angst vor dir selbst.
Dein Spiegelbild beginnt langsam, sich zu verändern. Das Gesicht deiner selbst verzieht sich zu einer grauenhaften, hässlichen Grimasse. Ein Grinsen zieht sich vom einen Ohr zum Anderen, voller Boshaftigkeit und Schadenfreude. Der Zeigefinger deines Spiegelbildes findet seinen weg zu deinem Gesicht. Langsam fängst du an, dich selbst auszulachen. Lautlose Sätze schwirren durch den Raum. Sie dich doch an, wie scheiße du doch aussiehst. HAHA, und du glaubst wirklich, dass dich jemand leiden kann, ja?
Du erbleichst, blickst in den Spiegel, versuchst, herauszufinden, was in dir vorgeht, doch alles, was dir entgegensieht, sind kalte graue Augen ohne jegliche Emotionen. Ungläubig fängst du an, deinen Kopf zu schütteln, immer und immer wieder. Deine Hände wandern zu deinen Schläfen, du drückst zu, willst die Augen schließen, wegsehen von deinem Ich, dass dich noch immer auslacht. Immer mehr versuchst du, die Sätze, die, von drückender Stille umhüllt um dich herum schleichen, zu ignorieren. Keiner mag dich, kapier es endlich! FAHR ZUR HÖLLE. Du bist nur selbst daran Schuld, wenn etwas nicht so läuft, wie du es dir erhofft hättest.
Ein tonloser Schrei erstirbt in deiner Kehle.
Blitz.
Dein altes Zuhause.
Blitz.
Das wutentbrannte Gesicht eines Mannes. Überall Rot, überall pulsierende Adern.
Blitz.
Ein Teenager auf dem Bett. Ein Mädchen von vielleicht 15 Jahren.
Blitz.
Sie weint. Ihre Arme sind um ihre Knie geschlungen. Sie zittert, wippt langsam nach vorne und nach hinten. Immer und immer wieder.
Blitz
Ihre Lippen formen lautlos die Worte Ich bin nicht Schuld, ich bin nicht Schuld, ich bin nicht Schuld.. immer und immer wieder.
Blitz.
Blut tropft. Eine Narbe von vielleicht 2cm Länge. Puls.
Blitz.
Blut tropft. Immer und immer wieder.
Blitz.
Ich bin nicht Schuld. Ich bin nicht Schuld. Ich bin nicht Schuld...
Blitz.
Das Mädchen. Ihre Augen rot, dunkle Ringe.
Blitz.
Sie läuft über eine Wiese, nur Gras, unendliche Weite. Ihre langen, braunen Haare schweben durch die düstere, nebelige Landschaft. Ihr Blickt schwirrt hektisch umher. Sie friert, doch es ist ihr egal.
Blitz.
Dein Spiegelbild lacht nicht mehr. Dein Blick hat seine Starre verloren. Trauer nimmt seinen Platz ein. Eine Trauer, die einem alles raubt, worüber man bis eben noch lachen konnte. Tränen kullern über die Wangen deines Spiegelbildes.
Blitz.
Langsame Schritte über einen Feldweg. Sie.
Blitz.
Schwarze Hose, Schwarzer Pulli, Schwarze Schuhe. Schwarz umrandete Augen.
Blitz.
Haare wehen ihr ins Gesicht. Still sieht sie sich um. Bleibt stehen. Ihre Augen schließen sich. Minutenlang steht sie so, den Kopf zum Boden gerichtet. Ihre Hände verkrampfen sich immer wieder zu einer Faust. Einatmen, Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.
Blitz.
Ihre Atmung zittert.
Blitz.
Überall Nebel. Nichts zu erkennen.
Blitz.
Kälte zerrt an ihrer Kraft.
Blitz.
Einatmen, Ausatmen. Einatmen, Ausatmen.
Blitz
Sie hält die Luft an.
Blitz.
Sekunden vergehen.
Blitz.
Ein Schrei.
Blitz.
Er erstickt. Kreischen hallt durch die Landschaft wieder.
Blitz.
Weiter Schreien, nicht möglich.
Blitz.
Übergang in Schluchzen.
Blitz.
Knie knicken weg. Sie fällt. Aufprall auf gefrorenem Gras.
Blitz.
Du siehst dich weiter an. Wieder verändert sich der Blick deiner selbst. Ein Blick voller Selbsthass, Abscheu und Angst.
Blitz.
Eine Rasierklinge. Fest umschlungen von der Hand des Mädchens.
Blitz.
Tausende Gedanken.
Blitz.
Klinge senkt sich zum Unterarm herab.
Blitz.
Selbsthass. Hand zittert. Senkt sich weiter, verharrt wenige Millimeter vor deiner Haut.
Blitz.
Gedanken, tausende Gedanken.
Blitz.
Stechen. Ziehen, immer wieder. Schmerz. Keine Sinn fürs Fühlen. Schmerzen, immer mehr, doch kein Spüren. Immer mehr Schnitte, immer wieder und wieder.
Blitz.
Blut, so viel Blut.
Blitz.
Klinge fällt.
Blitz.
Sie lehnt sich zurück, langsam. Tut nichts mehr. Augen starren ins Nichts.
Blitz.
Sinne schwinden, doch das Bewusstsein bleibt.
Blitz.
Du.
Du siehst dich an, deine Augen haben jede Art von Emotionen verloren.
Schwärze zieht sich über die Pupille hinaus.
Du fasst dir ans Gesicht und spürst Tränen.
Langsam und Kraftvoll atmest du ein... lächelst, und der Spiegel zerbrach.