Samstag, 11. Januar 2014

Meeresrauschen

Es ist still. Druck liegt auf meinen Ohren. Ich stehe in Leere, Dunkelheit, ein Mantel aus Schwärze und Trübsal. Meine Augen sind geschlossen. Ich befinde mich im Nichts. Keine Sinne. Einzig und allein umgeben von der schwebenden Atmosphäre, die ich weder spüren, noch hören, noch sehen, noch riechen kann. Mein Atem geht langsam. Bin weder angespannt noch entspannt, weder aufmerksam noch abgelenkt. Ich höre auf meinen Atem. Stille. Langsam öffne ich die Augen. Dunkelheit. Ich bewege den Kopf. Überall um mich herum. Leise und vorsichtig drehe ich mich um mich selbst. Noch immer liegt ein dumpfer Druck auf meinen Ohren, doch er zieht sich langsam zurück. Die Schwärze beginnt sich, zu verkriechen, leise und mit Bedacht, als wollte sie versuchen, mich nicht zu stören. Es wird hell. Von Sekunde zu Sekunde ein Stück mehr, aber ohne Konturen anzunehmen. Keine Gestalten. Nur dunkles Grau, dass mehr und mehr zu hellem Grau, zu Weiß wurde. Aus der endlosen Schwärze wurde gleißende Helligkeit. Ich kniff die Augen zusammen,. hörte auf zu atmen. Der Druck auf meinen Ohren war fast nicht mehr zu spüren. Ich begann, unruhig zu werden. Die Leichtigkeit in meinem Gehör verwirrte mich. Noch immer war es still, aber auf eine andere Art. Sie hätte mich beruhigen sollen, doch ich wurde immer nervöser, trat ständig vom einen Fuß auf den anderen. Irgendwie gab sie mir das Gefühl, dass etwas passiert. Etwas, was mich aus dem Konzept bringen würde. Und als hätte sich dieser Gedanke verselbstständigt, geschah es. Anfangs hörte ich es kaum. Es kam mir vor wie die üblichen Hintergrundgeschräusche an einem normalen Tag, wie das Rauschen der vorbeifahrenden Autos auf der Straße oder das Rascheln der Blätter von Bäumen im Wind, doch da es das einzige Geräusch um mich herum war, konnte ich mein Gehör nicht davon abwenden. Ich blieb an dem Geräusch hängen wie ein Insekt im Netz einer Spinne. Ich hätte es mit dem Geräusch eines verstellten Radiosenders vergleichen können, doch irgendetwas störte mich an der Vorstellung. Irgendetwas ... nach wenigen Minuten erkannte ich es. Das Rauschen um mich herum wurde lauter und vermischte sich mit dem Pfeifen des Windes. Rhythmisch kam und ging das Rauschen, wurde lauter, und wieder leiser. Ich begann, Salz zu schmecken, spürte den Wind, der an meinen Haaren zerrte, mich nach vorne trieb. Unbeholfen taumelte ich ein paar Schritte vorwärts, die Augen nach wie vor feste zusammengekniffen. Das Geräusch nahm voll und ganz meine Aufmerksamkeit in Besitz, ich hörte immer und immer wieder genau hin, wie sich das Rauschen entfernte und wieder näher kam. Weg. Nah. Weg. Nah.
Das Pfeiffen des Windes wurde stärker, kräftiger, nahm mich mit, zog mich mit ins Unbewusste. Meine Augenlider flatterten, zwischen grellem Weiß blitzen für Sekundenbruchteile Blaues Schäumen und Besch - farbene Bildabrisse auf. Irgendwas wehte mir ins Gesicht. Es war rau und körnig. Ich schlug mir die Hände vor die Augen und versuchte, mich vor dem Ansturm von Wind und Schmerz zu schützen. Immer wieder riss mir der Wind beinahe den Boden unter den Füßen weg und ich taumelte und taumelte und taumelte, konnte mich kaum auf den Beinen halten. Das Rauschen in meinen Ohren. Der Geschmack von Salz auf meiner Zunge. Der Wind, der mir scharf ins Gesicht peitschte. Mit einem Mal war alles vorbei. Leicht in der Hocke, die Arme schützend vor den Augen stand ich da, als ich mit einem Mal mein Gleichgewicht wiederfand, meine Haare vom Wind losgelassen wurden, die langsam ihren Platz auf meiner Schulter einnahmen. Vorsichtig nahm ich die Hände vom Gesicht und rieb mir über die Augen, die sich wie von selbst öffneten. Kleine, unscheinbare, stille Tränen schlichen über meine Wangen, während ich da stand und den strahlendblauen Himmel beobachtete. Ein wenig zittrig fuhr ich mir durchs Haar und sah nach unten. 50 Meter unter mir brandete das Meer, schlug hart gegen die Felsen. Ich musste schwer schlucken und riss den Kopf Richtung Himmel. Meine Lippen zuckten, ich unterdrückte den Drang, loszuschluchzen, schloss die Augen und lies die Erinnerung auf mich einströmen.
Ein warmer Tag, seichter Wind. Ich war drei, vielleicht vier, lief in schnellen, hastigen Schritten durch den Sand. Ich lachte. Großvater hatte die Kamera dabei. Filmte, wie ich richtung Meer lief, hinfiel, mich zu ihm umdrehte, schelmisch in die Kamera grinste, aufstand und weiterging. Meine Schritte verlangsamten sich, als ich das Wasser erreichte. Ich ging behutsam ein, zwei Schritte durchs Wasser. Mied die Stellen, wo Algen still vor sich hin schwebten, spürte die Kühle Nässe um meine kleinen Beinchen herum. Ich blieb stehen und sah nach vorne. Hinaus in die endlose Weite. Blau. Rauschen, sog die Luft ein und atmete mit einem Kichern aus. Genauso lieb ich stehen, solange, bis Großmutter mich rief und ich in ihre Arme lief, sah, wie sie mir ein paar schweißverklebte Strähnen aus dem Gesicht strich und die Erinnerung langsam verschwand.
Meine Hände verkrampften sich jede Sekunde ein wenig mehr. Tränen strömten ungehalten über meine Wangen, das Rauschen des Meeres unerträglich in meinen Ohren. Ich hatte das Meer immer geliebt. Eine weitere Erinnerung schoss auf mich ein.
Ich war älter. Vielleicht 14 oder 15. Meine Augen waren ausdruckslos. Meine Haare wehten mir ins Gesicht, aber es störte mich nicht sonderlich. Ich sah mich um. Überall Menschen, kleine Kinder, die Frisbee spielten oder alte Pärchen, die sich auf einem Handtuch sonnten. Mein Blick schwebte umher, nahm alles in sich auf. Im Wasser befand sich eine kleine Gruppe von Jugendlichen. Zwei von ihnen waren auf einem Schlauchboot unterwegs. Der Rest saß eng beisammen auf einer Plattform knapp 50 Meter vom Strand entfernt. Ich hörte sie kichern und lachen, beobachtete sie. Eines der Mädchen stand auf. Sie war schlank und hatte lange, blonde Haare. Sie schlich hinter einen Jungen, der sich grade aufrichtete, nahm ein wenig Anlauf und sprang auch ihn zu. Just in dem Moment drehte sich der Junge um. Ich hörte, wie er aus Spaß aufschrie und sie sich an ihm festklammerte, ehe sie gemeinsam ins Wasser stürzten. Als ich bemerkte, wie sie sich mitten im Flug küssten, sah ich weg. Auf den Boden. Kälte machte sich in meiner Brust breit. Mir war klar dass ich nie so etwas hatte und ich auch nicht wusste, ob ich jemals so etwas haben würde. Der Gedanke ging, ich drehte mich um und verschwand hinter der Düne, als die Erinnerung endete. Mein Herz pochte so laut in mir, dass ich das Gefühl bekam, es wurde gleich mit einem Schmerzensschrei aus meiner Brust hüpfen. Meine Augen waren rot und geschwollen. Ich sah unscharf durch die Tränen, sah nicht wohin ich ging, setzte langsam, vorsichtig, einen Fuß vor den anderen. Der Wind nahm wieder zu, schob mich nach links. Nach dem sechsten Schritt spürte ich keinen Halt mehr unter meinen Füßen, merkte nur noch, wie ich mit dem rechten Fuß zuerst über die Kante der Klippe glitt und ich leise, in Zeitlupe, das Festland über mir kleiner werden sah. Ich wollte meine Augen schließen, doch sie blieben offen, wollte das Salz nicht mehr schmecken, doch konnte es nicht, sondern schwebte immer schneller dem Rauschen des Meeres entgegen, bis es mich für immer in sich verschlang und der dumpfte Druck und die trübselige Schwärze wieder seinen Platz in mir einnahm.
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Hallo, ihr lieben.
Dieser Text hat eine ganz besondere Bedeutung für mich.
Ich habe ihn auch nicht nur aus Spaß oder Lust geschrieben, sondern, damit mehr Menschen verstehen können, was gewisse Geräusche in mir auslösen können.
In diesem Falle geht es wie ihr wohl bereits bemerkt habt, um das Rauschen des Meeres.
Der Text hat keinen Geschichtlichen Sinn, sondern dient als Methapher für meine Gedanken, wenn ich dieses Geräusch höre.
Ich habe diesen Text geschrieben, damit sich meine Therapeutin ein Bild machen kann, nachdem ich in der Entspannungsgruppe eine stille Panikattacke durchlitten habe.
In Hoffen dass mir der Text in der Therapie hilft. - Melody