Mittwoch, 11. Juni 2014

Selbstschutz



Das schlimmste Gefühl ist, wenn dir keiner helfen kann. Man möchte weg aus der Welt, sich verkriechen, sich die dunkelste, abgelegenste Ecke suchen und mit ihr verschmelzen. Man will keinen sehen, keinen hören und keinen spüren. Die Angst und Verlassenheit übernimmt deine Kontrolle und vollkommene Schwäche übermannt deinen Körper. Die Leute versuchen dir zu helfen, obwohl sie wissen, dass es nichts zu helfen gibt. Wenn ein Körper im Nichts schwebt, zwischen lauter Verlorenheit und Schmerz, ist Hilfe ein tonloser Schrei, der dich nicht mehr erreicht. Sie wollen mit dir reden, doch es kommt nichts an. Der abklingende Laut ihrer Stimmen verliert sich viele, viele Kilometer in der Dunkelheit, bevor er als eiskalter Windhauch bei dir ankommt, der dich immer mehr ins Unglück stürzen lässt. Du willst und kannst nicht reden, und sie können es nicht verstehen. Sie wissen nicht, wie es in dir aussieht. Das alles, was dir übrig geblieben ist, durch eine minimale Berührung zerbrechen kann. Und doch fuchteln sie mit ihren Händen an dir herum, versuchen dich wachzurütteln aus deiner Trance, die dich in ihren Fängen hat, der dein einziger Schutz in all dieser Dunkelheit ist. Er umschließt dich mit gewaltiger Kraft, zerquetscht dich beinahe, doch du brauchst diese gewaltsame, unsanfte Stärke. Sie ist der einzige Weg, Herz und Kopf beieinander zu halten. Der unaufhaltsame Schmerz versucht sie mit allen Mitteln voneinander zu trennen,  für immer und ewig. Und genau dort, wo du liegst, halb zerdrückt von der Last in deiner Seele, umhüllt von eisiger Hitze und feuriger Kälte, genau da ist der einzige Ort, der dich schützt. Dich schützt vor den dumpfen Schlägen, den verzweifelten Rufen von draußen, die dir helfen wollen. Wie gewaltige Flutwellen rollen die kläglichen Versuche, dich zu erreichen, auf dich zu, ziehen an den eisernen Ketten um dich zurück in die Realität zu holen, doch du bist schwach und deine Ketten zu stark, um dich von deiner Einsamkeit loszureißen. Immer mehr verkriechst du dich in deinem Schmerz, verschließt dich vor der Außenwelt, lässt nichts mehr an dich ran, nicht einmal die kleinen eisigen Windböen, die einst einmal nach Hilfe versprechende Rufe waren. Es wird ganz still um dich herum, nur dein langsamer, schwacher Puls tönt in deinem von Leere ausgefülltem Kopf. Obwohl die Schwärze um dich herum nicht vollkommener hätte sein können, wird es immer dunkler. So dunkel, dass du nicht mehr weißt, ob du überhaupt noch existierst. Trotzdem pulsiert dein Herz weiter, will nicht aufhören zu schlagen. Abwechselnd übermannt dich extreme Hitze und eisige Kälte. Im Sekundentakt fängt das Blut in dir an zu kochen und zu gefrieren. Das Atmen fällt dir immer schwerer, und doch hörst du nicht damit auf. Weil irgendwo in dir drin ein winzig kleines Stück Hoffnung lebt, irgendwo zwischen all dem Schmerz und der Trauer. Es sitzt ganz tief in dir drin, ein winzig kleines Stück deiner Persönlichkeit, das so stark ist, dass es überlebt. Und es ist zwar stark, doch nicht so stark, dass es dir jetzt helfen kann. Es braucht Zeit, Unmengen an Zeit um zu wachsen und dich aus deinem Tiefschlaf erwachen zu lassen. Noch ist es nicht so weit. Du wirst weiter in deinem kleinen Cocon, aus verzweifeltem Selbstschutz gebaut, verweilen und versuchen, den Schmerz weiterziehen zu lassen, um Hilfe annehmen zu können. Du hast keine Ahnung wie lange es dauern wird, doch das ist dir auch egal. Im Moment willst du nicht zurück in die Welt da draußen, voller kleiner und großer Gefahren, die dich in Sekundenbruchteilen zerstören können. Du würdest zerbrechen, deine Ketten würden dich nicht mehr halten können und dein Herz und dein Kopf würden sich für immer verabschieden. Das schwierigste im Leben ist, Herz und Kopf im Einklang zusammenarbeiten zu lassen. Wie sollst du das schaffen, wenn sie im Moment nicht einmal auf freundschaftlicher Basis miteinander verkehren? Nein, solange dass nicht funktioniert, kannst du nicht raus aus deiner Isoliertheit. Manchmal hilft nur das. Die Menschen draußen müssen lernen zu verstehen, dass reden nicht immer etwas bringt. Vor allem nicht, wenn sie nur aufs Herz oder nur auf den Kopf fokussiert sind. Sie müssen lernen, einen Menschen dann in Ruhe zu lassen, wenn er es braucht. Denn wenn sie es nicht tun und weiter versuchen auf dich einzugehen, wird dein Widerstand der Ignoranz irgendwann brechen und du wirst dich damit befassen müssen. Und das ist der springende Punkt. Manchmal kann ein zerstörter Mensch nicht über das reden, was ihn kaputt macht, weil er es nicht erträgt, die Situation wieder und wieder anzusehen. Geht man es zu früh an, sprengt es einem den Willen, verstehen zu wollen. Der Verstand schaltet sofort auf stur und du schüttelst deinen Kopf, immer wieder und immer weiter, weil du nicht willst, dass die Menschen erkennen, dass du grade zu schwach und zu widerstandslos bist, um zuzugeben, dass du im Moment die Situation nicht erkennen und verstehen willst. Und die Tränen der Angst fließen, weil der Schmerz so unglaublich wehtut und dir alles raubt, was dir wichtig ist. Die Zeit ist noch nicht gekommen, sie ist noch etliche Kilometer von dir entfernt und wartet auf den richtigen Zeitpunkt. Im Gegensatz zu den Menschen draußen in der Welt, versucht die Zeit sich nicht zu beeilen und dich zu bedrängen, um zu reden. Sie lässt dir das einzige, was du momentan hast. Selbstschutz. Sie kennt dein kleines Geheimnis, dein kleines Stückchen Hoffnung, dass du tief in dir verborgen mit dir trägst und wartet, bis es groß genug geworden ist, um die Angst, den Schmerz, die Verlorenheit und Verlassenheit in Angriff zu nehmen.
Deine Augen werden schwer. Leise schleichen die Tränen über deine Wangen und nehmen die ersten Fetzen Trauer mit sich. Dein Puls schlägt ein minimales bisschen schneller und stärker und du spürst, wie sich die Fesseln um einen Nanometer lockern. Es wird jeden Tag so weitergehen und mit jeden 24 Stunden wird es ein wenig leichter werden, den Weg zurück in die alte Welt zu finden. Bis dahin bleibst du dort liegen, da, wo du allein und einsam bist, wo dich die starken Fesseln halten, deinen Kopf und dein Herz miteinander verbinden und du alles, was dich langsam zerstört mit eigener, nervenaufreibender Kraft aus dir herausschleudern kannst, solange, bis es zu Ende ist und du mit einem kraftvoll schlagendem Herz und einem großen Stück Hoffnung aufrecht aus deiner dunklen Ecke herauskommst, mit offenen, klaren Augen und einem Lächeln im Gesicht.