Sonntag, 6. November 2016

Individuell universell

Der Tee in meinen Händen fühlt sich warm und schützend an und riecht wie der Tee von den Pfadfindern. Ich sauge den aufsteigenden Dampf ein und spüre das altbekannte Sympathiegefühl, das mich immer überkommt, wenn ich daran denken muss. Ich schmecke den Wind, das absterbende Laub der Bäume und das Holz der kleinen Hütte, der leichte, aber angenehm muffige Geruch im kleinen Innenleben, das immer an diese typischen Märchenhütten erinnerte, klein und gemütlich, Holztisch und Bänke, eine kleine Küche mit Blechkesseln und wenigen, alten Töpfen und Porzellanschüsseln. Im größeren Raum ein kleiner, schwarzer Ofen, in dem seicht knisternd das Feuer seinen Raum füllt. An einer Wand - klein und relativ schmal hängen Bilder, Postkarten aus früherer Zeit mit Kindern und Jugendlichen, die glücklich aussehen. Grinsend sitzen sie im Gras, um ihre Hälse das gelbe oder blaugelbe gewickelte Halstuch, voll mit Anhängern, Stickern, Stecknadeln, Kordeln oder einfach dem getrocknetem Matsch aus vergangenen Rangeleien an verregneten Tagen. Sie sind alle so glücklich. Glücklich mit dem, was sie haben. Sich selbst. Neben den Postkarten verteilt einige Briefe, manchmal auch lustige Texte. Dinge, die man einfach nicht vergessen will. Auf dem Boden Schafswollteppiche, warme Decken. Fünfzehn bis zwanzig kindlich bis jung erwachsene Köpfe, die sich gemeinsam im Kreis auf den Boden kauern. Der Blechkessel mit dem Tee, dessen Duft ich bis heute nur damit identifizieren kann, vor zwei in Wollsocken gekuschelte Füße gestellt. Becher und Plastikschälchen wandern mit dem Uhrzeigersinn, eine Schale mit Keksen findet ihren Weg in die Runde, wird mit gierigen, aber gerechtigkeitsbewussten Fingern herumgereicht. Halb abgebrannte Kerzen in halbwegs gleichmäßigen Abständen. Dünne Holzbretter, mit dem hellen, cremeweißfarbenen Wachs, bereits beträufelt und wieder festgeworden und erneut mit Kerzen versehen, die einigermaßen gerade darauf zum stehen kommen. Streichhölzer entzünden sich, treffen den Docht, überall sanfte Schatten, die Fenster werden verschlossen und von außen mit Brettern abgedunkelt. Die Scharniere sind veraltet und gehen nur schwer zu. Die Tür wird geschlossen und alles taucht in dieses dunkle, warme Kerzenlicht, dass ich so zu lieben gelernt habe. Die Tassen und Plastikschälchen werden gefüllt zurückgereicht, jeder wartet geduldig, bis alle versorgt sind. Der Duft steigt von überall auf und dringt in die Köpfe, schenkt Sicherheit, Liebe, Freude und Entspannung im Miteinander. Trotz vieler Jahre, die mich von dieser Erinnerung trennen, schwebt alles so nah und deutlich vor mir, es könnte gestern gewesen sein. Der Tee in meinen Händen wird leichter und die Wärme schwindet, doch der Geruch bleibt. Im Kreis dreißig bis vierzig Füße in Kuschelsocken verpackt und überall dieser Geruch, überall diese Geborgenheit des Miteinanders. Die meisten Augen sind geschlossen. Und wenn du genau hinhorchst, ganz genau, zwischen das Knistern des Feuers, das kindliche Kichern, erwachsene Worte, das Klirren der Schöpfkelle gegen den Kessel, zwischen die Klänge der mehreren Klampfen, das Schwirren der Saiten, das sich langsam einstimmende gemeinsame Brummen, dass an einigen Stellen zwar etwas zu hoch oder zu tief ist, aber trotzdem genau darin Perfektion erschafft - wenn du zwischen all dem genau hinhorchst, dann hörst du auch das, was eigentlich nicht hörbar ist. Denn all das, all diese Eindrücke erschafft diese eine Art von Schwerelosigkeit, nämlich jene, die sich Freiheit nennt. Und Freiheit hat Geräusche, Gerüche, Klänge, Texturen und ein eigenes Sein. Nie wieder gelang es mir, Freiheit so deutlich zu spüren, zu schmecken oder zu fühlen. Freiheit ist nicht einheitlich. Auch dort nicht. Sie fühlt sich jedes mal anders an, aber immer und immer auf seine eigene Art und Weise doch universell. Individuell universell. Paradox denkst du jetzt? Das ist jene Kunst der Freiheit, denn besagt Freiheit eben nicht die Ungebundenheit? Kein Geruch, Geschmack oder Gefühl verspricht Ungebundenheit und doch ist sie genau darin zu finden wenn man zwischen den Zeilen riecht, schmeckt und fühlt. Der Tee in meinen Händen ist leer, die Wärme verflogen. Wenn ich die Augen zumache, spüre ich trotz allem die Atmosphäre in meinem Inneren. Zwischenzeiliges verinnerlicht. Wandelt durch unsere Körper. Das Knistern des Feuers im Herzen, die Klänge der Gitarren im Gehörgang, die Wärme in unseren Fingerspitzen, das Gefühl der Schafswolle und der Wollsocken quer durch unsere Beine und die Worte, das Kichern, unsere Anwesendheit in unseren Köpfen, und der Geruch vereint alles in sich selbst und trägt die Erinnerung mit uns mit, dorthin, wo es uns hinzieht und haftet an uns solange wir es zulassen, dass sich Ungebundenheit binden kann, sich Freiheit fesseln kann, sich Erinnerungen vergegenwärtigen können.
Ich sehe diese Hütte. Ihr Dach ist alt und morsch und das absterbende Laub bedeckt ihre Verletzlichkeit. Draußen ist es kalt und und die Sonne geht unter. Vor der zugezogenen Holztür stauen sich Wanderstiefel, variieren von Schuhgröße 32 bis 43. Wir sind alle individuell. Individuell universell. Wir riechen, schmecken, spüren. Sind schwerelos, ungebunden gebunden, frei gefesselt, vergegenwärtigte Erinnerungen einer Zeit, die vielleicht schon vergangen ist. Denn vielleicht sitzt grade irgendwo irgendwer mit einem Tee in der Hand, der wärmt und so riecht wie die Freiheit eben riecht. Individuell universell.