Du bist ein Feigling. Denn du rennst.
Du rennst um dein Leben, ständig auf der Flucht. Du flüchtest vor
allem. Aber weißt du was? Diese Flucht wird dir nicht helfen.
Vielleicht kannst du rennen, und du kannst dich verschließen vor
allem, was dir Angst macht und dich nervt und du nicht sehen willst,
aber vor der Zeit kannst du nicht flüchten. Denn die Zeit, sie ist
da, und sie ist immer da, wo du bist und da kannst du noch so viel
jammern und treten und laufen und dich darüber beklagen, dass du
keine Zeit hast - die Zeit, sie interessiert deine Probleme nicht.
Du bist ein Feigling. Denn du stehst.
Du stehst und weigerst dich, weiterzugehen. Und wenn du da so stehst
und beobachtest, dann sieht man die Feigheit in deinen Augen. Sie
sieht sich um, immerzu, hektisch fliegen deine Pupillen hin und her
und dann öffnet sie ihre Türen für die Angst. Angst vor was? Wovor
hast du Angst? Vor Konflikten, Stress, riesigen Spinnen, die dich
weit in die Nacht verfolgen, dem Moment, wenn dein Feund im Flur auf
dich wartet und tonlos ein "Wir müssen reden" folgt, mit
leerem Blick und ohne einen Kuss auf die Stirn, wie es sonst doch
immer gewesen ist. Ist es diese Angst? Oder doch die Angst vor deinem
Kopf, vor den Gedanken, die dich manchmal hinausjagen wollen in die
Kälte, hinaus in die graue Welt, die so unerträglich für dich ist,
vor den inneren Konflikten, denen du am liebsten zubrüllen würdest,
sie sollen doch endlich mal ihre scheiß Klappe halten oder doch dem
Moment, in dem deine Gedanken für immer erlöschen werden? Die Angst
ist in Bewegung, doch du bist ein Feigling, denn du stehst.
Du bist ein Feigling. Denn du
schweigst. Du schweigst, wenn die Eltern sich wieder anschreien,
schweigst, wenn du in der U-Bahn sitzt und drei Plätze weiter der
Mann mit der Lederjacke und den toten Augen wieder beginnt, sich
schamlos an undschuldige Studentinnen ranzumachen und du schweigst,
wenn du an der Grundschule vorbeiläufst und die drei Jungen dem
Mädchen mit der Zahnspange Kaugummis in ihre langen, blonden Haare
schmieren. Und wenn alles still ist, und du alleine auf dem Dach
deiner Garage sitzt mit einem Bier und in der klaren Nacht den
Sternenhimmel beobachtest, schweigst du auch.
Du bist ein Feigling, weil du jetzt
lächelst. Du lächelst, weil du all das, was ich gerade gesagt habe,
nicht wahrhaben willst. Du lächelst, weil du dir denkst "Wenn
ich nicht renne, dann gehe ich, denn dann habe ich Zeit, und wenn ich
stehe, genieße ich den Augenblick und wenn ich schweige, dann möchte
ich nicht reden, weil die Stille angenehm ist." Und dann muss
ich lachen. Laut und haltlos, weil es mir unerklärlich ist, was für
ein Feigling du bist.
Du rennst und stehst und schweigst. Du
rennst weg vor der Zeit, die sich an deine krafttlosen Beine
klammert, du stehst, weil deine Kraft sich dem Ende neigt und du
schweigst, weil du zu atemlos bist, um etwas zu sagen. Du rennst,
wenn du glaubst, dass dir die Zeit voraus ist, du stehst, wenn du
glaubst, dass du zu schnell bist und du schweigst, weil du nicht
weißt, wie du anders mit dem Warten umgehen sollst. Doch die Zeit
ist dir nie voraus oder spät dran, sie ist immer da, wo du bist, sie
ist da, wenn du in der Mathestunde sitzt und verzweifelt auf das
Klingeln der Pausenglocke wartest, sie ist da, wenn du mit deinem
Freund Zuhause im Bett liegst und ihr euch anseht und küsst und euch
wünscht, dieser Moment hielte für immer, und sie ist da, wenn du
Nachts mit tränenverschmierten Wangen in deinem Bett sitzt und in
die Schwärze starrst und dich fragst, wo zur Hölle die Zeit hin
ist.
Du bist so feige. Ich sehe dich an und
du stehst da, schweigend und in einer Haltung, die zeigt, wie gerne
du jetzt nur rennen würdest. Du siehst mich an und sofort wieder
weg, weil ich nicht mehr lächel. Ich betrachte dich und merke, wie
die Zeit und die Angst und die Schuld an allem geradezu an dir kleben
und irgendwie tust du mir leid. Du tust mir leid, weil du verlernt
hast, wie man geht, weil du verlernt hast, nicht stehen zu bleiben
und weil du vergessen hast, wie Sprechen funktioniert.
Und dein Freund dreht sich um und
verlässt dich, weil er nicht verlernt hat, weiterzugehen, und die
Frau neben dir in der U-Bahn zerrt den Mann in der Lederjacke mit den
toten Augen zurück, verpasst ihm eine Backpfeife und schreit ihn an,
er solle endlich verschwinden, weil sie nicht vergessen hat, wie
Sprechen funktioniert. Und plötzlich bist du weg. Ich stehe alleine
auf der Straße und drehe mich um. Unscharf erkenne ich deine Umrisse
in einiger Entfernung. Der Wind pfeift und leise höre ich, wie dein
Leben flüstert "lauf."