Samstag, 30. April 2016

Flucht

Du bist ein Feigling. Denn du rennst. Du rennst um dein Leben, ständig auf der Flucht. Du flüchtest vor allem. Aber weißt du was? Diese Flucht wird dir nicht helfen. Vielleicht kannst du rennen, und du kannst dich verschließen vor allem, was dir Angst macht und dich nervt und du nicht sehen willst, aber vor der Zeit kannst du nicht flüchten. Denn die Zeit, sie ist da, und sie ist immer da, wo du bist und da kannst du noch so viel jammern und treten und laufen und dich darüber beklagen, dass du keine Zeit hast - die Zeit, sie interessiert deine Probleme nicht.
Du bist ein Feigling. Denn du stehst. Du stehst und weigerst dich, weiterzugehen. Und wenn du da so stehst und beobachtest, dann sieht man die Feigheit in deinen Augen. Sie sieht sich um, immerzu, hektisch fliegen deine Pupillen hin und her und dann öffnet sie ihre Türen für die Angst. Angst vor was? Wovor hast du Angst? Vor Konflikten, Stress, riesigen Spinnen, die dich weit in die Nacht verfolgen, dem Moment, wenn dein Feund im Flur auf dich wartet und tonlos ein "Wir müssen reden" folgt, mit leerem Blick und ohne einen Kuss auf die Stirn, wie es sonst doch immer gewesen ist. Ist es diese Angst? Oder doch die Angst vor deinem Kopf, vor den Gedanken, die dich manchmal hinausjagen wollen in die Kälte, hinaus in die graue Welt, die so unerträglich für dich ist, vor den inneren Konflikten, denen du am liebsten zubrüllen würdest, sie sollen doch endlich mal ihre scheiß Klappe halten oder doch dem Moment, in dem deine Gedanken für immer erlöschen werden? Die Angst ist in Bewegung, doch du bist ein Feigling, denn du stehst.
Du bist ein Feigling. Denn du schweigst. Du schweigst, wenn die Eltern sich wieder anschreien, schweigst, wenn du in der U-Bahn sitzt und drei Plätze weiter der Mann mit der Lederjacke und den toten Augen wieder beginnt, sich schamlos an undschuldige Studentinnen ranzumachen und du schweigst, wenn du an der Grundschule vorbeiläufst und die drei Jungen dem Mädchen mit der Zahnspange Kaugummis in ihre langen, blonden Haare schmieren. Und wenn alles still ist, und du alleine auf dem Dach deiner Garage sitzt mit einem Bier und in der klaren Nacht den Sternenhimmel beobachtest, schweigst du auch.
Du bist ein Feigling, weil du jetzt lächelst. Du lächelst, weil du all das, was ich gerade gesagt habe, nicht wahrhaben willst. Du lächelst, weil du dir denkst "Wenn ich nicht renne, dann gehe ich, denn dann habe ich Zeit, und wenn ich stehe, genieße ich den Augenblick und wenn ich schweige, dann möchte ich nicht reden, weil die Stille angenehm ist." Und dann muss ich lachen. Laut und haltlos, weil es mir unerklärlich ist, was für ein Feigling du bist.
Du rennst und stehst und schweigst. Du rennst weg vor der Zeit, die sich an deine krafttlosen Beine klammert, du stehst, weil deine Kraft sich dem Ende neigt und du schweigst, weil du zu atemlos bist, um etwas zu sagen. Du rennst, wenn du glaubst, dass dir die Zeit voraus ist, du stehst, wenn du glaubst, dass du zu schnell bist und du schweigst, weil du nicht weißt, wie du anders mit dem Warten umgehen sollst. Doch die Zeit ist dir nie voraus oder spät dran, sie ist immer da, wo du bist, sie ist da, wenn du in der Mathestunde sitzt und verzweifelt auf das Klingeln der Pausenglocke wartest, sie ist da, wenn du mit deinem Freund Zuhause im Bett liegst und ihr euch anseht und küsst und euch wünscht, dieser Moment hielte für immer, und sie ist da, wenn du Nachts mit tränenverschmierten Wangen in deinem Bett sitzt und in die Schwärze starrst und dich fragst, wo zur Hölle die Zeit hin ist.
Du bist so feige. Ich sehe dich an und du stehst da, schweigend und in einer Haltung, die zeigt, wie gerne du jetzt nur rennen würdest. Du siehst mich an und sofort wieder weg, weil ich nicht mehr lächel. Ich betrachte dich und merke, wie die Zeit und die Angst und die Schuld an allem geradezu an dir kleben und irgendwie tust du mir leid. Du tust mir leid, weil du verlernt hast, wie man geht, weil du verlernt hast, nicht stehen zu bleiben und weil du vergessen hast, wie Sprechen funktioniert.
Und dein Freund dreht sich um und verlässt dich, weil er nicht verlernt hat, weiterzugehen, und die Frau neben dir in der U-Bahn zerrt den Mann in der Lederjacke mit den toten Augen zurück, verpasst ihm eine Backpfeife und schreit ihn an, er solle endlich verschwinden, weil sie nicht vergessen hat, wie Sprechen funktioniert. Und plötzlich bist du weg. Ich stehe alleine auf der Straße und drehe mich um. Unscharf erkenne ich deine Umrisse in einiger Entfernung. Der Wind pfeift und leise höre ich, wie dein Leben flüstert "lauf."

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