Schau mich an! sage ich. Komm schon,
schau mich an.
Da stehst du nun. Da stehst du mit
dieser unsichtbaren Wand um dich herum.
Deine Augenlider gesenkt, die Arme
schlaff an den Seiten deines Körpers herabhängend.
Schau mich an. Du bist hier. Und du
lebst!
Da war eine Bewegung in deinen
Fingerspitzen. Ich habe es bemerkt und trete langsam einen Schritt
auf dich zu doch als würde ein Schatten aus mir herausspringen und
mit einem lauten Schrei auf dich zurasen, zuckst du unwillkürlich
zurück und verkrampfst deine Hände zu einer Faust.
Was haben sie mit dir gemacht?
Du stehst da. Du stehst da in dieser
Haltung, zerzauste, dunkelbraune Haare, ein leichtes, blassroséweißes
Nachthemd verhüllt als einziges deinen zierlichen Körper, mit
nackten Füßen stehst du hier vor mir, ganz wackelig versuchen sie
das Beben im Boden auszugleichen.
Da ist also noch Kraft. Ein klein wenig
Kraft die du von irgendwo herausziehst, sei es vielleicht der Gedanke
an das, was wir gemeinsam noch erleben könnten, sei es vielleicht
einfach nur der warme Wind, der gerade dein Gesicht streichelt oder
vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. Vielleicht ist es nicht
von dieser Welt. Vielleicht...
Schau mich an. Hey, schau mich an! Du
bist hier! Und ich bin hier. Schau mich an.
Deine Miene ist so reglos. So starr. Wo
bist du grade? Ja, du bist hier bei mir, aber... ich glaube nicht,
dass du das weißt, geschweige denn verstehst.
Wo bist du grade? Bist du vielleicht am
Meer? So wie früher? Weißt du das noch? Wir sind am Strand entlang
gerannt, mit leichtem, kleinen Fußtapsen, einem Grinsen im Gesicht.
Wir waren frei. So frei wie unsere Gedanken frei waren, so frei wie
die Möwen, die über unsere Köpfe hinwegschossen (und eine davon
hat dir einmal dein Brot aus der Hand gepickt, weißt du noch? Und du
warst so verdutzt und standest da und hast nur der Möwe nachgesehen
und deine Hand hielt immernoch das mittlerweile unsichtbare Stück
Brot fest) Du warst schon immer so weit weg. Schon immer so weit weg
und trotzdem stehst du jetzt hier. Du stehst und... und... und ich
weiß nicht.
Schau mich an. Schau mich bitte endlich
an.
Und da hebtest du deine Augenlider und
ich konnte dir endlich in die Augen sehen. Jedes Mal muss ich diese
Farbe erneut indetifizieren. Da ist kein Grund zu erkennen, da ist
nur Unendlichkeit. Unendlichkeit in dunkelgrün, und manchmal ist da
ein wenig blau. Und irgendwie erinnerst du mich an die Dinge im
Leben, die unerklärbar sind. Denn du bist genauso unerklärbar. Du
bist die Erklärung für alles, was sich nicht erklären lässt. Und
ich stehe da und sehe dich an. Und du stehst da und schaust in meine
Richtung. Aber du schaust mich nicht an. Deine Augen fokussieren
irgendetwas hinter mir. Ich bin nicht da. Nicht für dich.
Deine Aufmerksamkeit gilt also nicht
mir und vielleicht galt sie auch nie mir. Trotzdem stehe ich hier,
vor dir und schaue dich an. Und ich sage "Ich gehe nicht. Ich
werde bleiben. Ich werde nicht gehen!" und "Ich werde
gehen" schriebst du einmal auf einen Zettel und schobst ihn
unter dem Türschlitz hindurch. Erinnerst du dich daran? Das war die
Zeit, als der Boden unter dir brach. Das war die Zeit, in der du von
einem Lebensabschnitt zum nächsten gesprungen bist immer mit dem
Risiko dass deine Füße einmal den rettenden Halt verlieren werden
und du in die Tiefe stürzen wirst. Und doch stehst du hier. Du
stehst hier und du lebst. Aber du siehst mich nicht.
Ich drehe die ganze Geschichte mal um.
Schau dich an! Du bist hier! Und du
lebst!
Wer bist du? Wie ist dein Name? Rufe
all dies in deine Erinnerung, sag dir wer du bist! Und vor allem, sag
dir, DAS du bist! Denn du bist da! Du bist hier. Direkt vor mir. Und
ich will dass du das auch weißt. Schau dich an verdammt!
Ich komme nicht an dich heran. Du hast
diese unsichtbare Wand um dich herum. Aber was bringt sie denn? Wovor
willst du dich schützen? Vor der Angst? Die Angst ist in deinem
Kopf. Wenn du dich einschließt, schließt du die Angst mit dir ein.
Komm endlich aus deinem Versteck
heraus. Du brauchst dich nicht zu verstecken.
Gib dir selbst eine Chance. Gib deinen
wackligen Füßen eine Chance. Die Welt ist nicht immer instabil und
am beben. Die Welt zerbricht nicht jeden Tag auf's neue. Und ja, du
brauchtest verdammt viel Klebeband und hast unter Schweiß alles
wieder zusammengepuzzelt aber - du HAST alles wieder
zusammengepuzzelt und das ist das, was wirklich zählt. Die Welt
setzt sich nicht von allein wieder zusammen. Die Welt braucht Hände,
die diese Tat vollbringen.Und deine Hände haben diese Tat
vollbracht. Und ja, es war kraftraubend, es war zerstörend und
zermahlend und hat vieles eingenommen und viele Pläne nach hinten
verschoben, aber sie sind deswegen nicht weg. Sie sind noch immer da.
So wie du. Du bist auch noch da. Und auch hier waren es deine
blutenden und schmerzenden Hände, die dich wieder zusammengepuzzelt
haben. Unter Brennen. Mit Leid und Hoffnungslosigkeit und Angst. Und
du hast dich öfters verpuzzelt und Puzzleteile verwechselt und
versucht sie Gewalt in die letzten Lücken zu drücken und zu pressen
und hast fast aufgegeben als du einsehen musstest, dass man nichts
erzwingen kann.. aber - du stehst. Und du lebst!
Verstehst du? So ist die Welt nunmal.
Die Welt ist ein Puzzle. Und du bist ein Puzzle. Und bei dir ist es
zerbrochen. Die Welt und du. Und da knietest du dann. Mit zahllosen
Puzzleteilen auf einem Haufen, völlig miteinander vermischt, nicht
zu unterscheiden in Größe und Form. Es kommt immer von innen. Innen
ist das veränderliche. Außen? Außen ist alles gleich. Deshalb
spürst du ja auch wenn die Erde bebt und siehst es nicht. Das ist
das bedeutende. Und deshalb darfst du nicht warten bis jemand kommt
und diese Puzzleteile für dich sortiert und wieder zusammensetzt.
Denn, das sind deine Puzzle. Und es ist dein Leben. Dein Körper und
deine Welt. Du kennst sie. Und du kennst dich. Die anderen sehen doch
nur das äußerliche. Sie würden eine Ewigkeit an diesem Puzzle
sitzen. Wenn sie von außen doch alle gleich erscheinen, dann sind
sie nicht in der Lage, etwas zu vollenden, was nur durch dich selbst
zu vollenden ist. Sie würden versagen. Weißt du. Magst du auch
manchmal an Problemen versagen, manchmal versagen die Probleme auch
an dir. Die äußeren Probleme. Sie kennen dich nicht. Sie kennen nur
deine Hülle. Und diese Hülle, diese unsichtbare Wand hast du
perfekt und ohne Lücken um dich herum aufgebaut. So perfekt und
lückenlos, dass dich das ganz sanft umschließt und sich so perfekt
anpasst, dass sie mit dir zu verschmelzen scheint und nicht zu sehen
ist.
Aber ich weiß, dass sie da ist. Ich
sehe sie, weil ich weiß, wie du bist. Und vielleicht bin ich es
nicht, die deine Aufmerksamkeit erregt, aber ich habe viele Tage mit
dir verbracht. Ich habe Nächte mit dir dagegessen und geredet
gelacht gehasst und geliebt und jetzt wird mir klar - Ich habe
geredet und gelacht und gehasst und geliebt und du, du warst einfach
schon immer ganz weit weg.
Und jetzt? Jetzt bist wieder ganz weit
weg. Du stehst da. Und ich stehe da. Und du stehst da mit deinen
langen zerzausten braunen Wuschelhaaren und deinem Nachthemd und
deinen wackeligen nackten Füßen auf dem bebenden kalten Boden und
schaust so durch mich hindurch.
Die Welt ist nicht einfach. Der Mensch
ist auch nicht einfach. Renn nicht davor weg. Manchmal braucht ein
Puzzleteil einfach länger. Und solange du stehst und lebst und du
dir sagst, dass du hier bist, dass du atmest und vor allem dass du
BIST - Puzzleteile verschwinden nicht von selbst. Wenn du nicht vor
lauter Wut und Enttäuschung zerbrichst oder wegschmeißt oder sie
anzündest, wie auch immer - solange das nicht passiert - hast du
immer die Möglichkeit, alles zu vollenden.
Du bist unerklärbar. Du bist das, was
das unerklärbare erklärbar macht. Du bist das Puzzleteil, dass in
jede Lücke passt und zugleich in keine. Du bist universell. Du bist
da. Und du stehst. Und du lebst.