Samstag, 18. Juni 2016

Lebenspuzzle

Schau mich an! sage ich. Komm schon, schau mich an.
Da stehst du nun. Da stehst du mit dieser unsichtbaren Wand um dich herum.
Deine Augenlider gesenkt, die Arme schlaff an den Seiten deines Körpers herabhängend.
Schau mich an. Du bist hier. Und du lebst!
Da war eine Bewegung in deinen Fingerspitzen. Ich habe es bemerkt und trete langsam einen Schritt auf dich zu doch als würde ein Schatten aus mir herausspringen und mit einem lauten Schrei auf dich zurasen, zuckst du unwillkürlich zurück und verkrampfst deine Hände zu einer Faust.
Was haben sie mit dir gemacht?
Du stehst da. Du stehst da in dieser Haltung, zerzauste, dunkelbraune Haare, ein leichtes, blassroséweißes Nachthemd verhüllt als einziges deinen zierlichen Körper, mit nackten Füßen stehst du hier vor mir, ganz wackelig versuchen sie das Beben im Boden auszugleichen.
Da ist also noch Kraft. Ein klein wenig Kraft die du von irgendwo herausziehst, sei es vielleicht der Gedanke an das, was wir gemeinsam noch erleben könnten, sei es vielleicht einfach nur der warme Wind, der gerade dein Gesicht streichelt oder vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. Vielleicht ist es nicht von dieser Welt. Vielleicht...
Schau mich an. Hey, schau mich an! Du bist hier! Und ich bin hier. Schau mich an.
Deine Miene ist so reglos. So starr. Wo bist du grade? Ja, du bist hier bei mir, aber... ich glaube nicht, dass du das weißt, geschweige denn verstehst.
Wo bist du grade? Bist du vielleicht am Meer? So wie früher? Weißt du das noch? Wir sind am Strand entlang gerannt, mit leichtem, kleinen Fußtapsen, einem Grinsen im Gesicht. Wir waren frei. So frei wie unsere Gedanken frei waren, so frei wie die Möwen, die über unsere Köpfe hinwegschossen (und eine davon hat dir einmal dein Brot aus der Hand gepickt, weißt du noch? Und du warst so verdutzt und standest da und hast nur der Möwe nachgesehen und deine Hand hielt immernoch das mittlerweile unsichtbare Stück Brot fest) Du warst schon immer so weit weg. Schon immer so weit weg und trotzdem stehst du jetzt hier. Du stehst und... und... und ich weiß nicht.
Schau mich an. Schau mich bitte endlich an.
Und da hebtest du deine Augenlider und ich konnte dir endlich in die Augen sehen. Jedes Mal muss ich diese Farbe erneut indetifizieren. Da ist kein Grund zu erkennen, da ist nur Unendlichkeit. Unendlichkeit in dunkelgrün, und manchmal ist da ein wenig blau. Und irgendwie erinnerst du mich an die Dinge im Leben, die unerklärbar sind. Denn du bist genauso unerklärbar. Du bist die Erklärung für alles, was sich nicht erklären lässt. Und ich stehe da und sehe dich an. Und du stehst da und schaust in meine Richtung. Aber du schaust mich nicht an. Deine Augen fokussieren irgendetwas hinter mir. Ich bin nicht da. Nicht für dich.
Deine Aufmerksamkeit gilt also nicht mir und vielleicht galt sie auch nie mir. Trotzdem stehe ich hier, vor dir und schaue dich an. Und ich sage "Ich gehe nicht. Ich werde bleiben. Ich werde nicht gehen!" und "Ich werde gehen" schriebst du einmal auf einen Zettel und schobst ihn unter dem Türschlitz hindurch. Erinnerst du dich daran? Das war die Zeit, als der Boden unter dir brach. Das war die Zeit, in der du von einem Lebensabschnitt zum nächsten gesprungen bist immer mit dem Risiko dass deine Füße einmal den rettenden Halt verlieren werden und du in die Tiefe stürzen wirst. Und doch stehst du hier. Du stehst hier und du lebst. Aber du siehst mich nicht.
Ich drehe die ganze Geschichte mal um.
Schau dich an! Du bist hier! Und du lebst!
Wer bist du? Wie ist dein Name? Rufe all dies in deine Erinnerung, sag dir wer du bist! Und vor allem, sag dir, DAS du bist! Denn du bist da! Du bist hier. Direkt vor mir. Und ich will dass du das auch weißt. Schau dich an verdammt!
Ich komme nicht an dich heran. Du hast diese unsichtbare Wand um dich herum. Aber was bringt sie denn? Wovor willst du dich schützen? Vor der Angst? Die Angst ist in deinem Kopf. Wenn du dich einschließt, schließt du die Angst mit dir ein.
Komm endlich aus deinem Versteck heraus. Du brauchst dich nicht zu verstecken.
Gib dir selbst eine Chance. Gib deinen wackligen Füßen eine Chance. Die Welt ist nicht immer instabil und am beben. Die Welt zerbricht nicht jeden Tag auf's neue. Und ja, du brauchtest verdammt viel Klebeband und hast unter Schweiß alles wieder zusammengepuzzelt aber - du HAST alles wieder zusammengepuzzelt und das ist das, was wirklich zählt. Die Welt setzt sich nicht von allein wieder zusammen. Die Welt braucht Hände, die diese Tat vollbringen.Und deine Hände haben diese Tat vollbracht. Und ja, es war kraftraubend, es war zerstörend und zermahlend und hat vieles eingenommen und viele Pläne nach hinten verschoben, aber sie sind deswegen nicht weg. Sie sind noch immer da. So wie du. Du bist auch noch da. Und auch hier waren es deine blutenden und schmerzenden Hände, die dich wieder zusammengepuzzelt haben. Unter Brennen. Mit Leid und Hoffnungslosigkeit und Angst. Und du hast dich öfters verpuzzelt und Puzzleteile verwechselt und versucht sie Gewalt in die letzten Lücken zu drücken und zu pressen und hast fast aufgegeben als du einsehen musstest, dass man nichts erzwingen kann.. aber - du stehst. Und du lebst!
Verstehst du? So ist die Welt nunmal. Die Welt ist ein Puzzle. Und du bist ein Puzzle. Und bei dir ist es zerbrochen. Die Welt und du. Und da knietest du dann. Mit zahllosen Puzzleteilen auf einem Haufen, völlig miteinander vermischt, nicht zu unterscheiden in Größe und Form. Es kommt immer von innen. Innen ist das veränderliche. Außen? Außen ist alles gleich. Deshalb spürst du ja auch wenn die Erde bebt und siehst es nicht. Das ist das bedeutende. Und deshalb darfst du nicht warten bis jemand kommt und diese Puzzleteile für dich sortiert und wieder zusammensetzt. Denn, das sind deine Puzzle. Und es ist dein Leben. Dein Körper und deine Welt. Du kennst sie. Und du kennst dich. Die anderen sehen doch nur das äußerliche. Sie würden eine Ewigkeit an diesem Puzzle sitzen. Wenn sie von außen doch alle gleich erscheinen, dann sind sie nicht in der Lage, etwas zu vollenden, was nur durch dich selbst zu vollenden ist. Sie würden versagen. Weißt du. Magst du auch manchmal an Problemen versagen, manchmal versagen die Probleme auch an dir. Die äußeren Probleme. Sie kennen dich nicht. Sie kennen nur deine Hülle. Und diese Hülle, diese unsichtbare Wand hast du perfekt und ohne Lücken um dich herum aufgebaut. So perfekt und lückenlos, dass dich das ganz sanft umschließt und sich so perfekt anpasst, dass sie mit dir zu verschmelzen scheint und nicht zu sehen ist.
Aber ich weiß, dass sie da ist. Ich sehe sie, weil ich weiß, wie du bist. Und vielleicht bin ich es nicht, die deine Aufmerksamkeit erregt, aber ich habe viele Tage mit dir verbracht. Ich habe Nächte mit dir dagegessen und geredet gelacht gehasst und geliebt und jetzt wird mir klar - Ich habe geredet und gelacht und gehasst und geliebt und du, du warst einfach schon immer ganz weit weg.
Und jetzt? Jetzt bist wieder ganz weit weg. Du stehst da. Und ich stehe da. Und du stehst da mit deinen langen zerzausten braunen Wuschelhaaren und deinem Nachthemd und deinen wackeligen nackten Füßen auf dem bebenden kalten Boden und schaust so durch mich hindurch.
Die Welt ist nicht einfach. Der Mensch ist auch nicht einfach. Renn nicht davor weg. Manchmal braucht ein Puzzleteil einfach länger. Und solange du stehst und lebst und du dir sagst, dass du hier bist, dass du atmest und vor allem dass du BIST - Puzzleteile verschwinden nicht von selbst. Wenn du nicht vor lauter Wut und Enttäuschung zerbrichst oder wegschmeißt oder sie anzündest, wie auch immer - solange das nicht passiert - hast du immer die Möglichkeit, alles zu vollenden.
Du bist unerklärbar. Du bist das, was das unerklärbare erklärbar macht. Du bist das Puzzleteil, dass in jede Lücke passt und zugleich in keine. Du bist universell. Du bist da. Und du stehst. Und du lebst.

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